Eine Weihnachtsgeschichte – von Björn


Operation „Tür frei“

Allen Pferden war klar, dass etwas geschehen musste, wenn Franz ihre Hilfe brauchte. Und zwar schnell. Aber was? Die Stille war in ein aufgeregtes Wiehern und Hufgescharre umgeschlagen. Plätzchen war der Erste, der sich aus dem Schock löste und die Initiative ergriff.

„Das wichtigste ist, das wir ruhig bleiben.“, rief er und tatsächlich nahm das Wiehern und Gescharre ab.

Werbung

„Damit wir überhaupt etwas tun können müssen wir unsere Boxen verlassen. Die Zeit ist gekommen für Operation ‚Tür frei‘ „, legte er nach und die Aufregung setzte wieder ein, denn die Operation ‚Tür frei‘ war schon seit Jahren nicht mehr in einem Ernstfall durchgeführt wurden. Jetzt würde sich zeigen ob ihre regelmäßigen Trainings etwas gebracht hatten an denen selbst die Fohlen teilnehmen mussten.

„Vergesst nicht! Erst ihr, dann die anderen! Sammelplatz wie gehabt! Noch Fragen bevor ich anfange runter zu zählen?“, rief Plätzchen und spitzte die Ohren ob sich eines seiner Mitpferde meldete. Die Operation ‚Tür frei‘ gab es überall auf der Welt in nahezu allen Ställen. Sie war eines der am besten gehüteten Geheimnisse der Pferdewelt und wurde nur in absoluten Notsituationen angewendet, wenn es um Leben und Tod ging. Normalerweise um Leben und Tod eines Mitpferdes.

Aber Franz war ein Zweibeiner. So meldete sich auch prompt Degusa.

„Plätzchen! ‚Tür frei‘ ist nicht dazu gedacht das Leben eines Menschen zu retten, auch wenn es Franz ist. Es ist viel zu gefährlich, dass unser Geheimnis enttarnt wird.“

Aber Plätzchen entgegnete: „Degusa! Es handelt sich hier um Franz. Den besten Zweibeiner der Welt. So oft hat er uns seine Treue bewiesen und so viel haben wir ihm schon beigebracht. Wir müssen ihm helfen. Ich werde die volle Verantwortung vor dem großen Pferderat übernehmen. Oder hast du eine bessere Idee, Degusa?“

Degusa schnaubte und setzte zu einer wütenden Antwort an.

„Oder hast du eine bessere Idee?“, wiederholte Plätzchen. „Sollen wir Franz sterben lassen, da draußen in der Kälte? Du weißt was er für jeden von uns getan hätte!“

Das hatte gesessen. Die anderen Pferde sahen Degusa an, die sich mittlerweile in ihrer Box umgedreht hatte und Plätzchen mit dem Hintern anschaute. Plätzchen war froh, dass Degusa nicht weiter diskutieren wollte. Jede weitere Minute, die sie hier mit solchem Gezeter vergeudeten, könnte Franz das Leben kosten.

Plätzchen holte tief Luft und fing an zu zählen.

„Auf mein Kommando! Drei! Zwei! Eins! TÜR FREI!“

Gleichzeitig griffen alle Pferde mit dem Maul, die Verschlusstange ihrer Boxentür und zogen sie mit aller Kraft nach unten. Dabei rutschte die Stange oben aus dem Loch und ermöglichte es ihnen die Boxentür mit dem Kopf nach links zu schieben. Das tat furchtbar weh im Maul und es schmeckte auch nicht besonders auf den eiskalten Stahl zu herumzunuckeln. Wie im Flugzeug verließen die Pferde zuerst die Stallgasse, die dem Tor nach draußen am nächsten waren. Hatte es ein Pferd nicht geschafft die Stange nach unten zu ziehen, so half immer der Boxennachbar, der weiter weg vom Stalltor war. Mit dieser Technik leerten sich die Boxen ohne das es zu einem Gedränge kam oder ein Pferd vergessen wurde. Zwar hatte Degusas Boxennachbar ihre Boxentür geöffnet, doch sie stand weiterhin regungslos in ihrer Box mit dem Kopf zum Fenster. Sie würdigte den vorbeitrabenden Pferden keines Blickes.

„Degusa?“, fragte Plätzchen als er seine Box verließ.

Doch es kam keine Antwort. Nur ein mürrisches Schnauben war zu hören. Dann soll sie halt bleiben wo der Pfeffer wächst, dachte sich Plätzchen und ging wortlos an ihr vorbei.

horses-786239_1920

Die Pferde fassen einen Plan

Als er durch das große zweiflügelige Tor der Stallgasse trabte, blieb er kurz stehen um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Obwohl die Außenbeleuchtung des Stalls angeschaltet war, erschienen die Lichtkegel der Lampen wie Inseln der Helligkeit in dem Meer der Nacht. Franz hatte so gut es ging die Wege freigehalten und den Schnee am anderen Ende des Geländes zu einem Turm angehäuft. Der Wind wehte unablässig und zu dem Schnee, der sich aus dem Himmel herab ließ, kamen noch die aufgewirbelten Flocken vom Boden dazu. Kaum eine Minute außerhalb des schützenden Stalls war der Schnee schon überall. In den Augen, in den Nüstern und in den Ohren. Plätzchen schüttelte sich und pustete mit einem herzhaften Schnauben den Schnee aus der Nase . Eigentlich sah Operation „Tür frei“ vor, dass sich alle Pferde am Misthaufen versammelten. Aber jetzt standen die Vierbeiner im Halbkreis am Round Pen. Plätzchen trabte hinüber und bevor er etwas wiehern konnte sah er auch schon den Grund für ihre Abweichung vom Operationsprotokoll. Franz lag neben dem Round Pen am Boden. Blut hatte den Schnee an seinem Kopf rot gefärbt und die Flocken die lautlos auf ihn hinabrieselten begannen sich wie ein Laken über ihn zu legen. Es herrschte Totenstille. Meicka, die Hofhündin, hatte sich neben ihn gelegt. Nichts und niemand würde sie jetzt von ihrem Herrchen wegbringen obwohl sie vor Kälte zitterte wie Espenlaub.

„Wie geht es ihm?“, fragte Plätzchen.

„Er ist immer noch bewusstlos.“, antwortete Meicka und zeigte mit ihrer Schnauze auf Franz seinen Atem, der sich als flaches Dunstwölckchen vor seinem Gesicht sichtbar machte.

„Ich glaube wir brauchen die Hilfe der Zweibeiner.“

„Aber woher sollen wir denn jetzt einen Zweibeiner nehmen?“, fragte Linchen, die Plätzchen direkt gegenüber stand.

„Im Stall ist kein anderer Mensch und bei dem Wetter wird diese Nacht auch keiner mehr kommen.“

„Wenn die Zweibeiner nicht zu uns kommen, dann müssen wir eben zu den Zweibeinern!“, rief Plätzchen und riss den Kopf nach oben. Kaum war das letzte Wort in die Kälte gesprochen fingen die anwesenden Pferde wild durcheinander zu wiehern. Zu den Zweibeinern? Ins Dorf? Kaum ein Pferd im Stall war jemals bei den Menschen im Nachbardorf gewesen. Die Ortskenntnis der meisten hier war auf die Koppeln, die Halle, den Reitplatz und die ein oder andere Ausreitstrecke beschränkt, die aber fast ausnahmslos vom Dorf wegführten. Auch Meicka kannte als Stallhund den Weg zum Dorf nicht. Wie sollten sie die Zweibeiner finden? Wie sollten sie Franz dorthin bringen?

„Ich kenne den Weg!“, ertönte plötzlich eine Stimme aus der letzten Reihe. Die Pferde drehten sich um und Mammut begann sich einen Weg durch die Pferdemenge in Richtung Plätzchen zu bahnen.

„Ich kenne den Weg!“, wiederholte Mammut, blieb neben Plätzchen stehen und blickte ihm tief in die Augen.

Plätzchen musste schmunzeln. Wer wenn nicht Mammut sollte den Weg ins Dorf kennen.

„Dann können wir ins Dorf galoppieren und Hilfe holen.“, wieherte Linchen freudig und tippelte dabei auf der Stelle.

„Aber wenn wir alleine ins Dorf gehen verstehen die Zweibeiner doch nicht was wir wollen. Die Menschen sind ja nicht gerade die schnellsten im Kopf!“, entgegnete Plätzchen. Linchen nickte und dachte daran wie begriffsstutzig die Zweibeiner sein konnten wenn es um die Leckerlis in der Tasche ging.

„Außerdem ist es besser wenn wir Franz gleich mitnehmen, damit sie ihm sofort helfen können wenn wir im Dorf sind.“, sprach Plätzchen weiter.

„Aber wie sollen wir Franz mitnehmen? Er kann ja nicht laufen.“ Die letzten Worte sprach Plätzchen vor sich hin und schaute dabei in die Dunkelheit. Auch die anderen Pferde schwiegen und überlegten angestrengt.

„Auch wenn ihr die Menschen immer für etwas langsam im Kopf haltet, sie sind gut darin Geräte und Werkzeug zu bauen.“, sagte Meicka und ihre Stimme war kaum zu hören im Schneetreiben.

„Franz hat einen alten Hundeschlitten in der Scheune stehen. Aber ich kann ihn nicht ziehen, dass müsst ihr Pferde machen.“, sprach sie weiter.

„Mammut ist der stärkste und er kennt den Weg ins Dorf.“, sagte Plätzchen und dreht sich zu Mammut um. Auch die anderen Pferde schauten das Kaltblut erwartungsvoll an.

„Ich habe mir geschworen mich nie wieder vor eine Kutsche, einen Schlitten oder ein anderes von den Zweibeinern gemachtes Teufelszeug spannen zu lassen.“, entgegnete Mammut energisch und seine Augen wurden dabei so schmal, wie seine Nüstern weit wurden. Die anderen Pferde schauten betroffen zu Boden.

„Es tut mir leid Mammut.“, sagte Plätzchen, „Ich wollte dich nicht…“

„Aber für Franz werde ich es noch ein allerletztes Mal machen.“, unterbrach Mammut ihn und schnaubte dabei tief aus. Alle merkten wie schwer ihm diese Entscheidung fiel und bewunderten ihn umso mehr dafür. Meicka sprang auf und rannte zur Scheune.

„Folg mir!“, bellte sie. Mammut trabte hinterher, während die anderen Pferde bei Franz blieben. Sie mussten jetzt schnell handeln, jede weitere Verzögerung konnte ansonsten unvorhersehbare Folgen für Franz haben. In der Scheune angekommen sahen sie auch schon den Schlitten. Er war groß genug um Franz ausreichend Platz zu bieten. Die Ladefläche war eben und machte es dadurch leichter ihren geliebten Zweibeiner auf den Schlitten zu ziehen. Jedoch war kein Geschirr am Schlitten befestigt, sondern nur ein Seil. Mammut nahm das Seil ins Maul und zog den Schlitten aus der Scheune. Meicka sprang auf die Ladefläche. Als sie beim Round Pen ankamen war die Freude über diese unverhoffte Lösung groß und ein freudiges Wiehern setzte ein. Außer bei Mammut, aber das merkte in diesem Moment keiner. Es wird verdammt schwer werden einen ausgewachsenen Zweibeiner wie Franz auf diese Weise durch den Schnee zu ziehen, selbst für ihn. Jedoch sagte er nichts, denn er hatte auch keine bessere Lösung parat. Sie mussten einfach das beste hoffen.

horse-742697_1920

Die Vorbereitungen

„Ihr holt alles an Decken, was ihr im Stall finden könnt. Wir müssen Franz unbedingt vor dieser Kälte schützen.“, sagte Plätzchen und schaute dabei die Pferde auf seiner rechten Seite an. Umgehend trabten diese in den Stall zurück.

„Und wir müssen Franz jetzt vorsichtig auf den Schlitten ziehen. Greift aber nur seine Kleidung.“, sagte er zu den Pferden auf seiner linken Seite. Praktischerweise hatte Franz auch genügend weite Kleidung an, an der die Pferde ziehen konnten. Mit vereinter Kraft schafften sie es ihn auf den Schlitten zu bugsieren. Franz stöhnte kurz auf und die Pferde schreckten zurück aus Angst er könnte zu sich kommen. Aber seine Augen blieben geschlossen. Gleichzeitig kamen auch die ersten Pferde aus dem Stall mit Decken im Maul zurück. Meicka sprang auf den Schlitten und legte sich ganz eng an ihr Herrchen.

„Ich werde versuchen ihn warm zu halten.“, sagte sie und machte mit ihrem Blick klar, dass es keinerlei Aussicht auf Erfolg hatte sie zum Hierbleiben zu überreden.

„In Ordnung.“, sagte Plätzchen, „Legt die Decken über sie.“

Die Pferde warfen die Decken über Franz und Meicka und versuchten sie noch so gut wie möglich mit dem Maul auszurichten, damit sie beim Transport nicht herunterfielen und das das Gesicht von Franz frei blieb.

Nachdem alles arrangiert war sprach Plätzchen zur versammelten Pferdegemeinschaft.

„Mammut und ich werden den Schlitten ziehen. Linchen wird uns begleiten, denn bei so einem Wetter werden wir ihr gutes Näschen zur Orientierung sicher gut gebrauchen können.“

Werbung

Dabei zwinkerte er Linchen zu und Linchen zwinkerte zurück, denn auf ihren feinen Geruchsinn war sie mächtig stolz. Plätzchen hätte am liebsten auch Degusa mitgenommen, denn sie hatte die besten Ohren der Stallgemeinschaft. Aber sie steht wohl immer noch bockig wie ein Esel in ihrer Box, dachte sich Plätzchen und drehte sich zu Mammut und Linchen um. Beide nickten ihm wortlos zu und signalisierten damit, dass sie bereit waren das vielleicht gefährlichste Abenteuer ihres Lebens anzugehen. Plätzchen wandte sich wieder der restlichen Stallgemeinschaft zu.

„Und ihr kehrt in eure Boxen zurück und wartet bis wir aus dem Dorf zurück sind. Die Operation „Tür frei“ ist damit beendet.“

Plätzchen hatte sich absichtlich kurz gehalten und auf eine emotionale Ansprache verzichtet. Zum einen mussten sie sich beeilen, damit Franz so schnell wie möglich Hilfe bekam und zum anderen waren die Pferde auch so schon aufgeregt genug. Manche von ihnen waren verärgert, dass sie nicht mit durften, andere wiederum waren ganz froh, dass ihnen dieses Abenteuer mit ungewissem Ausgang erspart blieb. Auch wenn sie es für Franz natürlich getan hätten. Sie stellten sich in einer Reihe auf und mit einem dreifachen Wiehern verabschiedeten sie Plätzchen, Mammut, Linchen und Meicka in die Dunkelheit. Mammut und Plätzchen hatten das Seil ins Maul genommen und zogen den Schlitten mit Franz und Meicka vom Hof. Linchen bildete die Nachhut. Als die vier um die Ecke verschwunden waren trabten die einen missmutig, die anderen erleichtert in ihre Boxen zurück und schoben die Türen mit ihrem Kopf zu. Die Gedanken waren bei ihren Freunden.

horse-743474_1920

Alle Teile der Weihnachtsgeschichte

Als die Pferde den Stall verließen – Teil 1

Als die Pferde den Stall verließen – Teil 2

Als die Pferde den Stall verließen – Teil 3


Möchtest du dein Training abwechslungsreich und bunt gestalten? Dann guck dir unbedingt meinen neuen Kalender „2024 für Pferdemenschen“ mit zahlreichen Trainingsideen an!

Ja, zum Kalender 2024